Geht es Ihnen auch manchmal so? Sie gehen durch eine Ausstellung und es fühlt sich an, als stünden Sie vor einem Schaufenster. Sie schauen auf die Texte, die Exponate – und kommen einfach nicht „rein“. Der Ausstellungsgestalter erreicht Sie mit seiner Inszenierung einfach nicht, es geht Sie nichts an, es ist langweilig und nicht begreifbar. Das kann am Thema liegen, muss es aber nicht. Gut gemachte Ausstellungen erzählen die Ausstellungsgeschichte – das Thema – so, dass ihre Besucher nicht kalt gelassen werden, sondern etwas mitnehmen:
  • eine Frage
  • einen Denkanstoß
  • eine Erkenntnis
  • Diskussionsstoff
  • (…)
Das funktioniert am besten, wenn die Inhalte, Exponate und Aspekte der Ausstellung so aufbereitet und dargestellt sind, dass der Besucher enge Bezüge zwischen seinem eigenen Leben und dem Ausstellungsthema findet. Wenn er vergleichen kann. Wenn er Gemeinsamkeiten und Unterschiede findet, zwischen seiner Realität und dem, was in der Ausstellung erzählt wird – visuell, hörbar, greifbar und interaktiv.

Drei Beispiele für Ausstellungs­gestaltung mit wirksamen Perspektiv­wechseln

Halle, Landesmuseum für Vorgeschichte

Hier, wo auch die berühmte Himmelsscheibe von Nebra präsentiert wird, findet sich ein besonders gutes Beispiel für eine gelungene Ausstellungsgestaltung, die nicht von uns stammt, aber in diesem Zusammenhang unbedingt erwähnt werden soll. In einem Ausstellungskapitel wird mittels Text und Illustration dargestellt, wie das Leben einer Neandertaler-Sippe an einem bestimmten Tag vor mehreren zehntausend Jahren ablief. Was erst einmal nüchtern klingt, wird hier auf eine sehr erfrischende, gut nachvollziehbare und begreifbare Weise dargestellt. Was hat der Ausstellungsgestalter gemacht? Es gibt Zeichnungen der Neandertaler-Sippe, bei Ihren täglichen Verrichtungen: baden, jagen, kochen, zusammen Zeit verbringen. Die detaillierten Zeichnungen erzeugten in mir einen engen Bezug. Ich fühlte mich ganz nah dran an der Szene, fast so als wäre ich selbst dabei. Was geschah genau 5:30 Uhr morgens vor 89.564 Jahren? Text und Bild sind grafische und begreifbare Interpretationen des Tagesablaufs einer Neandertalersippe. Die Wahl der Mittel erreicht, dass sich der Besucher hervorragend in die Geschichte hineinversetzen kann.

Was geschah genau 5:30 Uhr morgens vor 89.564 Jahren? Text und Bild sind Interpretationen des Tagesablaufs einer Neandertalersippe. Die Wahl der Mittel erreicht, dass sich der Besucher hervorragend in die Geschichte hineinversetzen kann.

Der Clou ist der Text unter den Bildern – die Interpretation: Da wird beschrieben, was die Mitglieder machen. Zum Beispiel um 5:30 Uhr: Einige kriechen „schläftrig und fröstelnd“ aus den Hütten, entfachen die Feuer und verrichten Ihre Notdurft „im dichten Uferschilf“. Ein einfaches Leben … Die Inszenierung mit Hilfe von Text und Bild erzeugt eine begreifbare Ebene im Kopf des Betrachters. Dabei entstehen parallel Fragen wie:
  • Was mache ich eigentlich heute um 17:30 Uhr? Ich sitze noch auf Arbeit.
  • Und was machten die Neandertaler um 17:30 Uhr? Auf den Bildern sieht man, dass sie Zeit haben. Für sich und ihre Familien. Offenbar lebten sie deutlich selbstbestimmter. Sie hatten deutlich mehr Zeit für ihre Familien.
Die Interpretation der historischen Ereignisse ist sehr konkret und unmittelbar. Der Perspektivwechsel findet statt, weil ich die historische Situation so konkret vorgeführt bekomme, als sähe ich sie mit eigenen Augen. Insbesondere durch die Zeitangaben fällt mir der Vergleich mit dem eigenen Leben leicht.

Wirkung der Ausstellungs­gestaltung auf mich

Ich verließ die Ausstellung mit neuen Gewissheiten und Erkenntnissen: Der Neandertaler führte natürlich ein einfaches Leben. Aber er hatten gleichzeitig große Freiräume, um den wir ihn aus heutiger Sicht nur beneiden können. Hier können Sie sich Ihren eigenen Perspektivwechsel abholen: Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle Di bis Fr: 9.00 –17.00 Uhr, Sa, So und Feiertage: 10.00–18.00 Uhr Website

Porzellanwelten Leuchtenburg, Böttgers Hexenküche

Wir alle kennen Geschichts-Ausstellungen – Ausstellungen, bei denen vergangene Ereignisse und Entwicklungen anhand von Exponaten und historischen Abbildungen dargestellt werden. Bei der Ausstellungsgestaltung wird dabei häufig eine lineare Abfolge der historischen Geschehnisse von Anfang bis zum Endpunkt entwickelt und mit kausalen Verknüpfungen belegt. Im Falle der Porzellan-Ausstellung auf der Leuchtenburg hätte das bedeutet, dass Böttgers Hexenküche in der hinlänglich bekannten historischen Darstellungen gezeigt worden wäre, wie er das chinesische Porzellan auf der Albrechtsburg für Europa „nach-erfand“. Die Porzellan-Ausstellung auf der Leuchtenburg sollte aber auf keinen Fall eine „normale“ Geschichts-Ausstellung werden. Daher gingen wir bei der Ausstellungsgestaltung einen radikal anderen Weg. Mit dem Auftraggeber beschlossen wir, die Ausstellungsbesucher einen engen Anteil an der großen Leistung Böttgers nehmen zu lassen. Denn Böttger und sein Team lösten eine Gleichung mit mehreren Unbekannten. Sie experimentierten mit:
  • den Ingredienzien der Porzellanherstellung (Frage: „Welche Ingredienzien werden benötigt?“),
  • mit den Mengen dieser Stoffe (Frage: „Was ist das richtige Mischungsverhältnis?“) und
  • dem Brennprozess selbst (Frage: „Wie lange und wie heiß müssen die Stoffe gebrannt werden?“).
Exakt diese Fragestellungen nahmen wir als Grundlage für die Ausstellungsgestaltung. Ziel war es, ein begreifbares Erlebnis mit interaktiver Inszenierung zu schaffen. Damit brachten wir den Besucher direkt mitten hinein in Böttgers Werkstatt. An einer großen Balkenwaage muss der Besucher zunächst die richtigen drei Rohstoffe für das Porzellan und deren Mischungsverhältnis finden. Dabei stellt der Besucher selbst fest, dass das schwierig ist. Zumal vier Rohstoffe angeboten werden, obwohl nur drei benötigt werden. Anders als Böttger bekommt der Besucher allerdings bereits beim Mischen positives oder negatives Feedback auf seine Arbeit. Wenn das Verhältnis nicht stimmt, werden die Waagschalen einfach wieder entleert. Diese Waagschalen-Installation kann von mehreren Besuchern gleichzeitig genutzt werden und lädt zum gemeinsamen Grübeln ein. Durch die Art und Weise der Ausstellungsgestaltung wird also ein Perspektivwechsel im Besucher erzeugt. Der Besucher schaut nicht von „außen“ auf ein historisches Ereignis, sondern er kann in einem bestimmten Umfang teilnehmen am Geschehen. Er ist – auf eine spielerische Weise – mittendrin im Prozess der Porzellanerfindung.

Porzellanerfindung für Jedermann in „Böttgers Werkstatt“ auf der Leuchtenburg.

Das richtige Verhältnis der Porzellangrundstoffe kann an einer Balkenwaage ermittelt werden.

Sie möchten das selbst erleben? Hier geht es:
Porzellanwelten Leuchtenburg
Leuchtenburg in Seitenroda bei Jena
Täglich 9:00 bis 19:00 Uhr (April – Oktober), 10:00 bis 17:00 Uhr (November – März)
Website

Erfurt, Gedenkstätte Andreasstraße

Wie lebte es sich in der DDR? Diese Frage stand am Anfang unserer Konzeption der Ausstellungsgestaltung für die Gedenkstätte in der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt in Erfurt.

Und warum wurde man Insasse der Haftanstalt?

Die Gründe unterschieden sich deutlich von heutigen Haftgründen. Denn es passierte schnell, dass man mit „dem System“ in Konflikt geriet:

  • Du willst nicht in die FDJ eintreten?
  • Du willst nicht in die Partei eintreten?
  • Warum gehst Du in die Kirche?
  • Was hast Du gegen Stalin?

Immer wieder wurden die DDR-Bürger nach ihren Haltungen befragt. Eine „falsche“ oder zum Zeitpunkt unpassende oder eine „unangepasste“ Antwort konnte die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten enorm verringern.

Für einige führte der Weg dann in die Haftanstalt „Andreasstraße“.

Was bedeutete es, in der DDR zu leben? Und was ist heute anders? Die Verbindung dieser beiden Fragen war für uns der zentrale Schlüssel für die Konzeption der Ausstellungsgestaltung. Ziel war es, die Lebenswege von Insassen nachzuzeichnen, die in die Untersuchungshaftanstalt Erfurt führten.

Dazu illustrieren wir das Leben in der DDR, die Menschen und ihre Entscheidungssituationen. Gemeinsam mit den Kuratoren entwickelten wir idealtypische, verdichtete Biografien und ließen diese in einer Graphic Novel interagieren.

Zum Beispiel die Kunststudentin, die in den 70er-Jahren nicht abstrakt zeichnen durfte und vor die Wahl gestellt wurde: Entweder sie produzieren „richtige“ Kunst oder sie bekommen keinen Zugang zum Künstlerbund – das endgültige Ende der Künstlerkarriere.

Die Entscheidungen, vor denen die Personen in der Graphic Novel stehen, muss in der Ausstellung der Besucher treffen: er kann für die Personen „Weichen stellen“ und anschließend ihr Schicksal weiterverfolgen.

Anpassung oder Eigensinn? In der Ausstellung treffen die Besucher die Entscheidung für die Personen in der Graphic Novel.

Indem die Besucher die Weichen stellen, beantworten sie sich die Frage: „Wie hätte ich entschieden?“.

Damit gelingt durch die Ausstellungsgestaltung der wichtigste und wirkungsvollste Perspektivwechsel: Der Besucher überlegt, wie er gehandelt hätte. Er vergleicht das Leben eines anderen mit seinem eigenen.

Hier können Sie diesen Vergleich selbst ziehen:
Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, Erfurt
Dienstag, Donnerstag 12–20 Uhr, Freitag, Samstag, Sonn- und Feiertage 10–18 Uhr
Website

Fazit

Ausstellungen sollen die Besucher berühren. Natürlich. Das gelingt besonders gut, wenn die Ausstellung den Vergleich verlangt: Wenn der Besucher Gemeinsamkeiten und Unterschiede finden kann, zwischen seinem Leben und dem, was in der Ausstellung erzählt wird. Das gelingt auch, wenn die Ausstellung Perspektivwechsel provoziert, die den Besucher bewegt, sich in das Leben anderer hineinzuversetzen. Nur so können Ausstellungen das Nachdenken anstoßen und Veränderung befördern. Liebe Museumsdirektoren, liebe Kuratoren, helfen Sie uns und all Ihren Besuchern, Ihr Wissen, Ihre Inhalte, Ihre Anliegen in die Welt zu tragen. Geben Sie Ihren Besucher Fragen und Anregungen mit auf den Weg. Ich verspreche Ihnen: Ihre Besucher werden auf diese Weise zu Ihren Botschaftern und helfen, Ihre Ausstellung noch erfolgreicher zu machen. Was für ein großartiger Perspektivwechsel!